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ABGEFAHREN
         Der Bus fährt am Leopolds-
         platz ab (links). Zu seinen
         Auftritten (rechts) fährt
         Marc Marshall auch oft mit                                                                                Foto: Schöllkopf
         dem ÖPNV.









                 Was hat Sie in dieser Zeit geprägt?      Deshalb setze ich mich in vielen Stiftungen
                 Ich habe gelernt, etwas zu leisten. Das waren   ein und mache Aktionen. Zum Beispiel die
                 auch Erfahrungen, die mir bei Corona gehol-  144 Stunden: ein Livestream ohne Unterbre-
                 fen haben. Als freischaffender Künstler gilt oft:   chung im Rahmen der Internationalen Wo-
                 einfach machen. Dadurch kommen Jobs, man   chen gegen Rassismus. Sie fand im März 2021
                 sammelt Erfahrungen. Das habe ich schon   statt, also mitten im Lockdown. Dabei habe
                 als Kind gelernt: Als ich in der ersten Klasse   ich unglaubliche Menschen kennengelernt,
                 war, hat mich mein Vater sechs  Wochen mit   die mitgemacht haben. So etwas werde ich
                 in die USA genommen. Er hat dort in einem   wieder auf die Beine stellen. Liebe, Frieden
                 deutschen Club in Chicago gesungen, ich   und Respekt: Das ist mein Credo.
                 habe nach dem Auftritt seine Singles aus dem                             „AN EINEM
                 Bauchladen verkauft. Danach haben wir ge-  Von Berufswegen her sind Sie
                 meinsam in der Küche beim Abwasch gehol-  ziemlich auf Achse. Wie sind Sie  BAHNHOF KOM-
                 fen. Es ist also auch eine Frage der Erziehung.   da unterwegs?          MEN EBEN ALLE
                 Für mich war es immer selbstverständlich zu   Meistens mit dem Zug oder dem   ZUSAMMEN:
                 arbeiten.                                Auto. Mit dem Auto, wenn ich fle-

                                                          xibel sein muss. Das Bahnfahren  EIN RICHTIGER
                 Wenn Sie an das Busfahren Ihrer Kindheit   ist für mich ein Blick in die Rea-  SCHMELZTIEGEL.
                 hier denken: An was  erinnern Sie sich?  lität. An einem Bahnhof  oder an   DAS BEOBACHTE
                 Vor allem erinnere ich mich daran, dass Busse   den Bahnsteigen kommen eben
                 wahnsinnig kommunikative Orte waren. Dort   alle zusammen: der Junggesellin- ICH GERNE.“
                 hat man sich unterhalten. Hat ein Opa uns   nenabschied, ältere Ehepaare, die
                 Kinder erst mit seinem Stock von den Sitzen   gerade verreisen, oder Fußball-  MARC MARSHALL ÜBER DAS ZUGREISEN
                 gescheucht, dass er sich setzen konnte, hat er   fans. Ein richtiger Schmelztiegel,
                 uns danach von seinem Leben erzählt. Heute   das beobachte ich gerne.
                 sitzen alle für sich und starren auf das Handy.
                 Diese Isolation fi nde ich sehr schade.   Was fasziniert Sie daran?
                                                          In erster Linie bewundere ich die Mitarbeiter,
                 Sie haben die Ehrenmedaille der Stadt ver-  die immer die Ruhe bewahren. Ich bin oft ent-
                 liehen bekommen: Wie kam es dazu?        setzt darüber, was ihnen von manchen Zug-
                 Es war eine  große  Überraschung für  mich.   reisenden an die Köpfe geworfen wird. Die-
                 Und es ist ein große Ehre, in einer Stadt zu   se gesellschaftliche Verrohung empört mich.
                 leben, in der es den Tony-Marshall-Weg gibt   Trotzdem genieße ich das Zugfahren und dass
                 und mein Vater sogar Ehrenbürger ist. Es   man zwischendurch auch mal einnicken kann.
                 ist eine Lebenshaltung, sich zu engagieren.   Das ist die bequemste Art des Reisens.


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